26.6.2025
News

Zeiterfassung und Überstunden: Warum das LAG Niedersachsen die Spielregeln verändert

André Kasten

Stillstand oder stille Wende? Was das LAG Niedersachsen wirklich über Überstunden und Zeiterfassung sagt – und warum viele Arbeitgeberanwälte das Urteil zu vorsichtig lesen

In einem Urteil vom 9. Dezember 2024 (Az. 4 Sa 52/23) hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen einem Arbeitnehmer Überstundenvergütung zugesprochen – obwohl dieser seine Arbeitszeiten nur pauschal mit „8:00 bis 18:00 Uhr“ angegeben hatte. Der Arbeitgeber hatte keine Zeiterfassung betrieben und konnte dem Vortrag deshalb nichts entgegensetzen. Das Gericht wertete die Darstellung des Arbeitnehmers als unbestritten – mit der Folge, dass die Überstunden als erwiesen galten.

Viele arbeitsrechtliche Kommentatoren, insbesondere auf Arbeitgeberseite, beruhigen: Es liege keine Beweislastumkehr vor. Die Anforderungen an den Arbeitnehmer seien weiterhin hoch. Die Darlegungslast bleibe, wie sie sei. Doch wer das Urteil so reduziert, übersieht den Kern der Entscheidung. Denn auch wenn das Gericht keine neue Beweisregel aufstellt, verändert es doch ganz wesentlich die praktische Ausgangslage in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten über Überstundenvergütung.

Das Gericht wendet eine Vorschrift aus der Zivilprozessordnung an, die besagt: Wenn eine Seite Tatsachen vorträgt und die andere dazu nichts sagt oder keine nachvollziehbaren Gegenargumente liefert, gelten die Tatsachen als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO). Das ist keine juristische Raffinesse, sondern gelebte Prozessrealität. Und genau das ist hier passiert: Der Arbeitnehmer sagte, er habe regelmäßig von 8 bis 18 Uhr gearbeitet. Der Arbeitgeber sagte – nichts. Weil er keine eigenen Daten hatte. Also galt der Vortrag als unbestritten.

Diese prozessuale Lage ist nicht nur ein juristisches Detail, sondern entscheidend für viele Verfahren. Denn wer keine Arbeitszeiten erfasst – sei es aus Nachlässigkeit oder aus taktischen Gründen –, steht im Prozess schnell mit leeren Händen da. Und wenn er nichts Substantielles entgegenzusetzen hat, unterliegt er. Die formelle Beweislast mag beim Arbeitnehmer liegen – aber die faktische Beweisführung wird ihm durch das Verhalten des Arbeitgebers enorm erleichtert.

Deshalb greift die Argumentation vieler Arbeitgeberanwälte zu kurz. Natürlich hat sich das Gesetz nicht geändert. Aber das Urteil ändert die Spielregeln – nicht auf dem Papier, sondern in der Realität vor Gericht. Es ist keine Revolution, aber eine stille Wende: Wer nicht dokumentiert, verliert.

Für Arbeitnehmer ist das ein wichtiger Schritt. Wer gearbeitet hat, soll nicht daran scheitern, dass er selbst keine minutengenaue Aufstellung vorlegen kann – besonders dann nicht, wenn der Arbeitgeber selbst keine Daten führt, obwohl er dazu längst verpflichtet ist. Die Pflicht zur Zeiterfassung ergibt sich nicht nur aus dem Arbeitszeitgesetz, sondern auch aus einem Grundsatzurteil des Europäischen Gerichtshofs. Trotzdem verzichten viele Unternehmen noch immer auf eine saubere, objektive Arbeitszeiterfassung – insbesondere bei Führungskräften. Dabei zeigt sich jetzt: Auch aus prozessstrategischer Sicht ist das ein riskantes Unterlassen.

Für die Praxis heißt das: Arbeitgeber sollten ihre Systeme dringend überprüfen. Und Arbeitnehmer – insbesondere Führungskräfte mit häufig unbezahlten Mehrstunden – sollten ihre Ansprüche konsequent prüfen lassen. Wenn Zeiterfassung fehlt, sind die Chancen vor Gericht deutlich gestiegen. Wer klug dokumentiert, wird nicht länger mit Erinnerungsproblemen allein gelassen.

Fazit: Dieses Urteil mag unscheinbar erscheinen. Aber es verschiebt die Kräfte im Prozess. Nicht auf dem Papier – sondern dort, wo es zählt: im Gerichtssaal.